Ein Montagmorgen im Juli. Die Sonne brennt. Sandaletten, kurze Hosen und Sonnenschutz sind angesagt. Am Busbahnhof in Beromünster treffen sich trotz «Emdwetter» eine Gruppe Bauern und die Verantwortlichen des Vernetzungsprojekts Michelsamt zur Inspirationstour in das Tal der Ziegen.

Via Schöllenen-Oberalp gehts dem Tagesziel Val Medel entgegen. Diese weiträumige Gemeinde (136 km2) zwischen Disentis und Lukmanierpass, abseits der Touristenströme gelegen, kämpft gegen die Abwanderung. Etwas über 320 Einwohner leben heute noch im Tal, werken hier und gestalten die Landschaft. Diese erzählt Geschichten der bäuerlichen Kultur und des historischen Verkehrsweges über den Lukmanier Richtung Süden. Dörfer im Talboden, idyllische Weiler an den Talflanken, Maiensässsiedlungen und Alpen, verleihen dem Tal einen besonderen Charme.

Der verworfene Nationalpark

Einst bestand hier die Vision, gemeinsam mit weiteren Gemeinden und kantonsübergreifend mit dem Tessin, einen zweiten Schweizer Nationalpark, den Park Adula zu gründen. Alles war angerichtet, doch der grössere Teil der Bevölkerung mochte den «Machern» nicht folgen, bodigte das Projekt an der Urne. Zu viele – Fischer, Jäger, Bauern – sahen sich damit in ihren Freiheiten eingeschränkt, ökonomische Argumente schienen ihnen zu wenig stichhaltig.

Der damalige Projektleiter Rico Tuor ist heute Gemeindepräsident im Val Medel, wo er gemeinsam mit seiner Partnerin Livia Werder das Hotel Medelina, am Dorfrand von Curaglia, führt. Ein Hotel, das sich ganz der Nachhaltigkeit verpflichtet sieht. Holz und Stein aus der Region dominieren die Ausstattung, regionale Produkte sind das, was auf den Teller kommt.

Nachhaltigkeit statt Hektik

Rico Tuor ist ein Bergler mit klaren Vorstellungen, wohin sich «seine» Gemeinde entwickeln soll. Den Einwohnern Perspektiven geben, will heissen Wertschöpfung im Tal halten, den Tourismus nachhaltig weiterentwickeln. Den Besuchern Ruhe statt Hektik, Qualität statt Quantität, Wandermöglichkeiten mit Erlebnisfaktor bieten. Wie etwa der Seilpark in der Medelin-Schlucht, die Aussichtsplattform mit Blick auf den Wasserfall «Cascada Fimatsch», die Hängebrücke über die Schieferschlucht oder die Academia Vivian, das Waldhaus auf Uaul da Crestas. Während der Sommermonate werden hier neben Konzerten und Waldkino auch Führungen und Exkursionen angeboten.

Nachwirkungen von «Vivian»

Auf Uaul da Crestas treffen die Besucher aus dem Michelsamt auf Christian Buchli, Mitarbeiter Waldökologie, des Amtes für Wald und Naturgefahren Graubünden. Er veranschaulicht, mit welcher Wucht Orkan «Vivian» (1990) auf diesem Bergrücken einen grossen Waldkomplex innert Minuten zerstörte. Eindrücklich, wie sich seither die Waldvegetation entwickelt hat. Angrenzend blütenreiche Alpwiesen, umworben von einer nicht zählbaren Vielfalt an Faltern und Insekten. Auf Schusters Rappen gehts dann Richtung Tal, durch den Uaul dils Plaun, ein Wald, durchzogen mit Moorflächen, auf welchen sich das Wollgras federleicht im Winde schmiegt. Unlängst hat die Gemeinde Val Medel als Besitzerin über diesen einen Vertrag für ein Sonderwaldreservat unterzeichnet. Ein Reservat, das ganz auf die Förderung des seltenen Auerwildes abzielt, das hier noch regelmässig beobachtet werden kann. Die H.ngebrücke über die Schlucht bei Mutschnengia wird für einige nicht Höhenerprobte dann doch zur Mutprobe. An diesem Bauwerk, zu unserer Überraschung, ist ein Gion Beeli aus Beromünster als Sponsor aufgeführt.

Biobauern der ersten Stunde

Rund 60 Prozent der Bündner Bauern produzieren nach den Bio-Richtlinien. Deshalb stand nach dem reichhaltigen Mittagessen im Hotel des Gastgebers, der Besuch bei Sepp und Barbara Candinas in Sumvitg auf dem Programm. Biobauern der ersten Stunde und bis heute Querdenker. Sie führen neben vielem, gemeinsam mit sieben weiteren Landwirtschaftsbetrieben die Genossenschaft Amarenda, mit dem Ziel, neben traditionellen Agrotourismusangeboten durch besondere Angebote Verständnis für die Produktionsweise im Einklang mit der Natur zu wecken. Dazu gehören Outdoor-Trekkings mit Packlamas, Interaktion mit den Tieren auf der Alp, geführte Bergwanderungen oder das Bauen traditioneller Trockensteinmauern.

Obstbäume auf 1000 Metern

Etwas Besonderes auf dem Betrieb Marias ist die grosse Vielfalt an Obstbäumen, hier auf über 1000 Metern über Meer eigentlich ungewöhnlich. Gedacht für den Direktverkauf auf  dem Markt in Chur. Zugekauft wird nichts, es «hed, solangs hed». Viele Sorten tragen nur jedes zweite Jahr, andere sind sehr anfällig auf K.lteeinbrüche im Frühling. Für die Bestäubung sorgen die Bienen von Barbara.

Herausforderung Wolf

Jetzt im Sommer sei es etwas ruhiger auf dem Talbetrieb. Die Fleischrinder geniessen den Aufenthalt auf der gemeindeeigenen Alp da Laus. Seit Kurzem Wolfsgebiet. Hier hat sich jüngst das siebte Wolfsrudel auf Bündner Kantonsgebiet gefunden und Nachwuchs gezeugt. Das sei schon eine Herausforderung, so Sepp auf Nachfrage. «Die Rinder sind deutlich nervöser und selbst für mich wird es gefährlich, wenn ich auf den Alpweiden der Herde unterwegs bin». Die Präsenz des Grossraubwildes stelle er nicht in Frage, «sie sind Teil des Ökosystems, nur wild müssen sie bleiben und sich von unseren Tieren, unseren Siedlungen fernhalten», so Sepp. Es gebe genug Rotwild an den Berghängen der Surselva, an welchen sich der Wolf zur Genüge gütlich tun könne, ohne den Bauern und ihren Tieren in die Quere zu kommen.

Verliererin Biodiversität

Nachdenklich stimmt Sepp die eben erst erfolgreich abgeschlossene Flurbereinigung. Obwohl die Bewirtschaftung der Betriebe damit deutlich optimiert wurde, Verliererin ist die Biodiversität. Die Kleinfelderbewirtschaftung bot deutlich mehr Platz für Kleinstrukturen und Vernetzungselemente, mit dem Zusammenlegen der Parzellen kommen vermehrt Maschinen zum Einsatz und die Schnittintervalle wurden gesteigert.

Querdenker mit Visionen

Und was nehmen die «Vernetzler» von dieser Inspirationstour ins Val Medel und die Surselva mit ins Michelsamt? Eine grosse Naturvielfalt und für die Bauernfamilien mit viel Handarbeit, wie es dies eben nur in den Alpen gibt. Eine Randregion, deren Bewohner nicht dem Mainstream grosser Touristendestinationen folgen, sondern auf den Stärken ihrer Region etwas aufbauen, das ihnen Mehrwert bringt und sie und ihre Kultur im Tal hält. Dazu brauchts Querdenker wie Rico Tuor und Sepp Candinas, die Wege aus der Tristesse suchen und beharrlich an Visionen arbeiten, auch dann, wenn sie in einem ersten Anlauf nicht erfolgreich sind.

Bericht im Anzeiger Michelsamt vom 30. Juni 2020